Jagd auf die große Bärin
26 August 2021

Jagd auf die große Bärin

Sonder : Peter Behrbohm & Anton Steenbock

1966, 2021 – die Jahreszahl tut nichts zur Sache. Jahrelang war hier Baustelle, nun weht der Westwind Staub über das frisch verlegte Pflaster. Es riecht nach Freiheit, sie beißt in den Augen. Ein paar Fahrzeuge rauschen vorrüber, dann zirpen wieder die Grillen. Zwischen den verwaisten Fahrbahnen erstreckt sich ein Streifen Bilderbuchprärielandschaft in den hitzeflirrenden Spätsommerhorizont. Im Gegenlich kaum zu erkennen – zwei düstere Silhouetten.
Auf Pferden, die ihre Köpfe ins trockene Gras stecken, sitzen zwei Gestalten und spähen angstrengt in die Ferne. Wieder rauschen Fahrzeuge heran. Auf beiden Seiten der Reiter fahren die Autos vorüber und ihre Fahrer*innen wundern sich aus nächster Nähe über die seltsame Vertrautheit der beiden Revolverhelden – oder sind es -heldinnen? Schwarze Knopfaugen, dick übermalte rote Münder, Knallbunte Hosen, taillierte Westen, ein Cowboyhut rot und einer blau, fast wie Clowns in Trachten. Gliedmaßen und Kleidung scheinen aus dem gleichen Gummi geknetet und die Pistolen sehen aus, als hätten sie sich diese auf die ausgestrecken Zeigefinger gemalt. Da wo sie hinstarren, steigt noch etwas Rauch auf, wie von einem eilig gelöschten Lagerfeuer. Keine hundert Schritt entfernt, hat da noch eben jemand im Kreis gesessen?!
Einige Passenten meinen sie gar zu kennen. Sind es Schurken aus Winnetou-Filmen? Wird die Karl-Marx Allee jetzt zur Karl May Allee? Das ehemalige Stadtzentrum rund um die große Prachtstraße Ostberlins mit seinen orthogonal angeordneten Wohnriegeln in einer Wüste aus Gras und Beton wirkt wie der letzte, noch dem Verwertungsdruck trotzende Feiraum der Stadt. Wären da nicht diese zwei Halunk*innen aus dem wilden Westen, die auf dem letzten weißen Flecken der Landkarte ihre Claims abstecken wollen. Auf dem Mittelstreifen haben Sie die Pferde abgestellt. Da, wo noch vor kurzem Autos parkten, bereiten Sie den letzten Überfall vor. Auf den Hochhäusern warten bereits die Geier und schauen herunter auf zwei Feindbilder aus ostdeutscher Produktion, Im Maßstab 30:1.

Die Figuren und das Lagerfeuer sind nämlich in der Tat bekannt, jedem Kind. Sie stammen aus dem Spielzeugsortiment der DDR und brachten den Klassenkampf in den 60ern und 70ern in Wohnzimmer und Buddelkästen. Seite an Seite ließ sich die heimische Prärie mit Harka und seinen roten Brüdern vor den einfallenden Banditen und ihrem schurkenhaften Gesellschaftssystem beschützen.
Die von Liselotte Welskopf-Henrich verfasste Abenteuer-Romanreihe „Die Söhne der Großen Bärin“ erzählt aus dem Wilden Westen aus der Sicht der Ureinwohner Nordamerikas, wird 1965 mit Goiko Mitic verfilmt und löst geradezu einen „Indianer“-Hype aus. Welskopf-Henrich ist Professorin für alte Geschichte und fußt ihren Roman anders als Karl May auf historische Fakten. Anders als in den Westernfilmen aus den USA und Westdeutschlands sind stets die „Indianer“ die Guten. Angeregt durch die Filme finden sich in Folge in der gesamten Republik
junge Indianerbegeisterte zusammen und gründen unentwegt „Indianistik-Klubs“. Die Apsàrukeh aus Fürstenwalde, die Wakan Tanka aus Erfurt, die Interessengemeinschaft Indianistik aus Triptis oder Arapaho aus Berlin, die Thunderbirds aus Rostok,… – Bis 1990 entstehen über 50 weitere Klubs.

Auf der Karl-Marx-Allee scheint der Kampf der Systeme längst entschieden. Die volkseigene Prachtstraße wurde zum der Austragungsort von Spekulationsfeldzügen eines hungrigen Immobilienmarktes. Um die Ureinwohner des Wilden Ostens ist es still geworden in ihren rechteckigen Tipis zwischen Schillingstraße und Jannowitzbrücke. Sie sind umzingelt, überrannt, vertrieben, haben sich sattgekauft an dem, was die Cowboys brachten und vergessen, dass sie sich einst für „Indianer“ hielten, für „Söhne [und Töchter] der großen Bärin“.

Tipi vor Platte – Indianer beim Nationalen Jugendfestival der FDJ 1984 in Berlin Indianisten beim Nationalen Jugendfestival der Freien Deutsche Jugend (FDJ) 1984 in Berlin.

Veranstaltungen:
10. September 2021, 16:00 Uhr, Karl Marx Allee vor dem Kino International:
feierliche Enthüllung des monumentalen Reiterstandbilds
11. September 2021, 11:00 Uhr, Kino International:
Filmvorführung des DEFA Films „Söhne der großen Bärin“ (DDR, 1965, nach einem Roman von Lieselotter Welskopf-Henrich) anlässlich des 120. Geburtstags der Autorin.
11. September 2ß21, 13:00 Uhr, Kino International:
Gespräch um das große Plastiklagerfeuer. mit Jens-Uwe Fischer Autor des Buchs „Sozialistische Cowboys“ (Suhrkamp, 2008), der Dresdner Indianistin Birgit Turski, dem Spielzeugcowboyexperten Jürgen R. Schüler und dem Ost-Berliner Rapper und dem selbst ernannten „Indianerhäuptling“ ROMANO

Das Projekt “Kunst im Stadtraum an der Karl-Marx-Allee” ist eine Initiative des Beratungsausschuss Kunst (BAK) der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, und wird vom Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte, Bezirksamt Mitte von Berlin zusammen mit dem Fachbereich Kunst im Stadtraum und am Bau, Senatsverwaltung für Kultur und Europa im Bezirk Mitte realisiert und aus gesamtstädtischen Mitteln sowie dem Programm Draussenstadt finanziert.

 

Week-Lager in den achtziger Jahren. Auf der “Indian Week” trafen sich seit 1973 jährlich die ostdeutschen Indianerfreunde. Aufnahme aus den achtziger Jahren.

Die “Indian Week” 1995 in Auma/Triptis (Thüringen). Das Treffen von ostdeutschen Indianisten findet seit 1973 jährlich statt.

Ein vollbepackter Trabi vor einem Tipi. Aufnahme aus den achtziger Jahren.

“Nicki” Buffalo Child im Indianermuseum “Nicki” Buffalo Child 1966 im Indianermuseum (Karl-May-Museum) in Radebeul. Der Cherokee-Indianer war von 1966 bis 1971 Hüter des Museums.

Chief Pete Potlatch, der sich speziell für die Indianer des Nordwestens Amerikas interessierte, wollte mit seinem Indianistenklub ganz unsozialistisch Geld verdienen. Gegenüber offiziellen Stellen erklärte er indessen, die Indianer des Nordwestens seien eigentlich “sowjetische Indianer”, um den Funktionären die Relevanz seines Hobbys zu verdeutlichen. Hier ist Pete Potlatch in einer Aufnahme aus dem Jahre 1987 zu sehen.